„Wie eine Flutwelle, eine Lawine, die jedoch kein Geräusch verursacht, wälzt es sich durch Phantásien und schlingt alles auf, was ihm auf seinem Weg begegnet – alles Leben, alle Farbe, jeden Duft, jeden Laut und jedes Gefühl. Was dem Nichts anheimfällt, verschwindet, als hätte es nie existiert.“
Michael Ende, Die unendliche Geschichte, 1979.
Immerath. Etzweiler. Spenrath. Garzweiler. Was diesen Orten gemein ist, ist die Tatsache, dass sie nicht mehr existieren. Sie sind dem Braunkohleabbau im sogenannten Rheinischen Revier zum Opfer gefallen. Dort, wo einst ihre Bewohner*innen lebten, erstreckt sich heute der Horizont ins Negative. In diese Tagebau-Schluchten zu schauen, erinnert an das Nichts aus Michael Endes Roman „Die Unendliche Geschichte“, das droht, Phantásien zu verschlingen, während die Phantásier*innen machtlos dabei zusehen, wie ihre Welt und alles, was darin lebt, Stück für Stück verschwindet. Ein weiteres Motiv, das „Die Unendliche Geschichte“ durchzieht, ist das Einhergehen von Erinnerung und Identität, beziehungsweise deren Verlust.
Was es bedeutetet, wenn der Ort, an dem man geboren wurde, aufgewachsen ist oder eine Familie gegründet hat und wo Eltern und Großeltern begraben liegen, verschwindet, das müssen seit 2011 auch die Bewohner*innen Manheims erfahren. Ihr Dorf musste im Zuge des Braunkohle-Abbaus im Tagebau Hambach in das 2012 entstandene Manheim-neu umgesiedelt werden.
Der Abbau von Braunkohle im Rheinischen Revier begann bereits im Jahr 1819. Seit 1892 wird aus dem fossilen Brennstoff Strom erzeugt. Eines der ersten Kraftwerke wurde nur wenige Jahre später durch das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk (RWE) übernommen. Heute werden 12% des deutschen Strombedarfs durch Braunkohle aus dem Rheinischen Revier gedeckt. Es ist das größte Braunkohlevorkommen Europas.
Umsiedlungen beginnen in der Regel 15 Jahre vor der tatsächlichen Inanspruchnahme eines Areals. Zunächst werden dabei die Anwohner*innen über die Umsiedlungspläne informiert. Darauf folgt die Standortfindung für eine neue Bebauungsfläche. Ist der neue Ort gefunden, folgen Bestandsaufnahmen, Bedarfsanalysen sowie die Planung der zukünftigen Grundstücke und Infrastruktur. Sind die Kaufverhandlungen zwischen den Eigentümer*innen und RWE abgeschlossen, kann die eigentliche Umsiedlung beginnen. Verweigern Anwohner*innen diese, wird ein sogenanntes Grundabtretungsverfahren eingeleitet.
Mit dem Verlust eines Ortes gehen nicht nur manifestierte Erinnerungen verloren, es verschwindet auch ein Teil von Kultur, individueller und kollektiver Identität. Natürlich geht dieser Verlust nicht zwangsläufig mit der Zerstörung von Objekten oder Orten einher, doch bestünde nicht eine untrennbare Verbindung von Physischem und Ideellem, wären unsere Museen, Archive, Bücher oder Gedenkstätten hinfällig. In dem Versuch, einen Teil ebendieser Kultur und Identität zu bewahren, werden Dörfer möglichst im Ganzen umgesiedelt und der Erhalt und Transfer möglichst vieler bedeutungsbehafteter Objekte und Bauten angestrebt. Nach Manheim-neu wurde in diesem Rahmen sogar die historische Marienkapelle transloziert. Selbst Straßennamen wurden in abgewandelter Form übernommen. Ansonsten wirkt Manheim-neu allerdings mehr wie eine US-amerikanische Vorstadt, die auf dem Reißbrett geplant wurde: Moderne Häuser, die sich - bis auf wenige exzentrische Ausnahmen - kaum voneinander unterscheiden, neue Straßen, neue Infrastruktur. Kein Baum wächst hier, dessen Standort nicht artifiziell vorbestimmt wurde. Noch erzählen die neuen Ecken und Plätze keine Geschichten.
Im Zuge ihrer Vorbereitung zur Ausstellung „Offenbach-neu“ haben Max Brück und Mathias Weinfurter sowohl das bereits fast vollständig verschwundene Dorf Manheim als auch das umgesiedelte Manheim-neu besucht, vor Ort mit Anwohner*innen gesprochen und ihre Eindrücke in Foto- und Videoaufnahmen festgehalten. Bei diesen Exkursionen wurden insgesamt 22 Revisionsklappen der letzten stehenden Straßenlaternen des „alten“ Manheims gesammelt, die als einsame Relikte die einstige Dorfstruktur noch erahnen lassen. Weil sie in Reihe geschaltet sind, werden sie zuallerletzt zurückgebaut.
Die von Brück und Weinfurter entwickelte Installation konzentriert sich auf ein 2,50 Meter hohes Kragarmregal aus rostigem Stahl, das parallel zur Ausrichtung des Ausstellungsraums mittig platziert ist. Es entstammt der Aufgabe einer der Kressmann-Halle nahegelegenen Schreinerei, die zukünftigen städtebaulichen Maßnahmen weichen muss. Auf dem doppelseitigen Kragarmregal liegen sechs kesseldruckimprägnierte Holzmasten mit einer Länge von jeweils 5 Metern. Darin eingefräst, heben sich die gesammelten beton-grauen Revisionsklappen optisch deutlich hervor. Wie Spolien - gerettet oder geraubt - aus den Ruinen einer zerstörten Stätte, tragen sie einen Bruchteil jenes Ortes in sich, für den sie einmal bestimmt waren. Am Ende der 5 Meter langen und 20 Zentimeter dicken Masten sind kugelförmige, milchig-weiße Laternenköpfe angebracht, die von den Stadtwerken Kerpen erworben wurden. Sie entstammen dem Nachbarort Sindorf, der - genau wie Manheim - zur Gemeinde Kerpen zählt. Das Kragarmregal, die Laternen und Revisionsklappen, all diese Objekte sind gesammelte Zitate, die auf ihre Herkunftsorte verweisen und diese gleichzeitig mit ihrer Neuverwendung überwinden.
Seit bereits sechs Jahren arbeiten Mathias Weinfurter und Max Brück an gemeinsamen Projekten. Die beiden Bildhauer beschreiben ihre Kollaboration als einen fortlaufenden Dialog über gesellschaftspolitische Themen wie Verortung und Aneignung. Ihre erste Ausstellung „Endeavour Island“ zeigten sie 2015 in Warschau. Seither folgten jährlich weitere Ausstellungsprojekte und Interventionen, unter anderem in der Ukraine, Israel, Leipzig, Gießen und Frankfurt am Main. Kennengelernt haben sich Brück und Weinfurter während des Studiums an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main. Ihre Erinnerungen an die Studienzeit sind eng an den Ort geknüpft, insbesondere an ihr ehemaliges Atelier in der Geleitsstraße und das Hafengelände nahe der Hochschule, das noch vor wenigen Jahren hauptsächlich Brachland war und auf dem sich auch die Kressmann-Halle befindet. Dann kamen die Neubauten, und mit den Neubauten wich die Freiheit. Auch die Kressmann-Halle wird in naher Zukunft weichen müssen, ausgerechnet für einen Neubau der HfG Offenbach, der im Zuge des seit 2007 laufenden hessischen Hochschulbauprogramms geplant ist. Auch wenn die Entwicklungen nicht unterschiedlicher sein könnten, fließen in der Ausstellung „Offenbach-neu“ zwei Narrative von Verlust und Erneuerung zusammen. Angesiedelt zwischen Kritik, Nostalgie und Aufbruchstimmung, erzählt sie die unendliche Geschichte von Veränderung, der sich nichts entziehen kann.