Graue Schluchten, braune Balkons, orangene Markisen, kleine Fenster, 19 Stockwerke, umgeben von Feldern. Hochhaussiedlung, Ankerstraße, Mülldorf, Sankt Augustin in Nordrhein-Westfalen. Dort leben rund 2200 Einwohner:innen auf 0,61 Quadratkilometern. In Sankt Augustin ist es die Siedlung mit dem höchsten Anteil von Menschen die unter dem Existenzminimum leben, von Menschen mit Migrationshintergrund, dem zweithöchsten Anteil an Haushalten mit Kindern und einem überdurchschnittlich hohen Anteil von Alleinerziehenden. Für Mathias Weinfurter ist die Ankerstraße ein nostalgischer Ort und ein riesiger Abenteuerspielplatz. In diesem Schmelztiegel der Häufung verbrachte der Künstler in den 1990er Jahren seine Kindheit. Es ist ein zentraler Ort seiner Biografie wie für unzählige andere Bewohner:innen. Es ist ein Ort von Lebenswegen und -entscheidungen, von individueller Bewältigung des Alltags und kollektivem Dach. Ein Ort, an dem das Leben strukturell prekär erscheint.
Für eine Kunstausstellung stellt sich die Frage wie die Installation Ankerstraße in Beziehung zum Leben steht? Das Zusammentreffen dieser beiden oftmals sich fremd scheinenden Teile von Ausstellungs- und Lebensraum soll mitnichten nur eine Modifikation der außerästhetischen sozialen Realität durch künstlerisches Eingreifen sein. Die Feldforschung, die Kunst als soziale Strategie, oftmals auch soziologische Kunst genannt – all dies sind terminologisch und inhaltlich Facetten einer ästhetischen Praxis, die als sozialer Prozess subsumierbar ist. Mathias Weinfurter untersucht und arbeitet natürliche Lebenssituationen oder -geschichten auf. Der Künstler bearbeitet die sozialen Strukturen nicht aus der Vogelperspektive, sondern ist Teil dieser Struktur – biografisch ist er mit den Architekturen der Ankerstraße verflochten. Der ästhetische Impetus entwickelt sich nicht zuvorderst, der soziale Prozess der Arbeit liegt am Anfang. Über die Architektur selbst versucht er behutsam die Bedingungen dieser Strukturen und die Funktionsweisen zu registrieren und aufzuschlüsseln.
Es ist auch der Ausdruck eines Missbehagens an der bestehenden Gesellschaft und einer Annäherung durch Einbringen eines erweiterten Blickwinkels, eines „künstlerischen Sachverstands“, der gesellschaftlich teilhaben, mehr noch, Einfluss nehmen möchte. Mathias Weinfurter fungiert hier als Auslöser und Anreger sozialer Prozesse, auch als Analytiker nicht nur innerhalb des Kunstkontextes, sondern und vor allem in der außerästhetischen gesellschaftlichen Realität. Parallel entstehen aus dieser Herangehensweise künstlerische und ästhetische Formen und Materialverbindungen: Friese von Einschreibungen der Fassade und Stahlverwebungen, die die Form des Wohnkomplexes zeigen. Seine künstlerische Praxis sensibilisiert für Soziales im allgemeinsten Sinne. Sie regt dazu an, gesellschaftliches Bewusstsein zu entwickeln, Machtstrukturen durchsichtiger zu machen und diese nach Möglichkeit aufzuweichen, ideologischen Syndromen auf die Spur zu kommen, Normen zu hinterfragen, sozial stereotypisierten Einstellungsmustern nachzugehen, festgefahrenem Sozialverhalten entgegenzuwirken, der interpersonalen Kommunikation neue Impulse zu geben.
In Ankerstraße verwebt sich der Ort, der Handlung unzähliger individueller Lebenswege und -stationen ist und war, mit der Analyse, die sich in der klaren geometrischen und nüchternen Gestalt der Arbeiten widerspiegelt. Daraus erwachsen Arbeiten, die nostalgisch scheinen, mehr aber, Strukturen offen legen, in denen sich die ästhetische Qualität aus dem Sehnsuchtsort und der Analyse zusammensetzt.
Kuratiert von Alexander Pütz. Gestaltung von Julia Woll.
12.03. - 16.04.2023
Eröffnung: 11. März 2023, 18 Uhr
Moltkerei Werkstatt, Moltkestr. 8, 50674 Köln