Auf einem schmalen Sims über dem Eingang zur Grabeskirche in Jerusalem lehnt eine unscheinbare Holzleiter an der Wand. Das älteste Zeugnis ihrer Existenz ist ein Holzschnitt aus dem Jahr 1728, auf dem die Leiter abgebildet ist. Möglicherweise steht sie aber auch schon viel länger dort. So genau weiß das niemand. Auch die ursprüngliche Funktion der Leiter ist nicht ganz klar: Hat man sie dort nach Arbeiten an einem der Fenster stehen lassen? Diente sie einmal dem Einstieg in die Kirche, wenn die Tore geschlossen waren?
Nur eines steht fest: Die Leiter darf nicht entfernt werden. Denn sie ist Teil des sogenannten Status Quo. Dieses Prinzip regelt, welche Teile der Kirche zu welcher der sechs christlichen Konfessionen gehören, die sich diesen womöglich heiligsten Ort des Christentums teilen: Katholik:innen, Kopt:innen, griechisch-, syrisch- und äthiopisch-orthodoxe Christ:innen sowie Armenisch-Apostolische. Man kann sich den Status Quo vorstellen wie einen komplizierten Putzplan in einer großen Wohngemeinschaft: Er regelt, wem welche Schreine gehören, welche Aufgaben von wem zu erledigen sind und wer zu welchen Uhrzeiten wo beten darf. Wie in wohl jeder großen WG führt dieses Prinzip zu Streitigkeiten – und diese haben Tradition. Zwischen den Mönchen, die die Kirche hüten und pflegen, kommt es deswegen auch mal zu Handgreiflichkeiten.
Der jahrhundertealte Streit zwischen den Konfessionen führt dazu, dass an der Grabeskirche alles so bleibt, wie es ist. Denn um etwas zu verändern, müssten sich alle einig werden. Jede Baumaßnahme, jede Veränderung ohne die Zustimmung aller Beteiligten wäre eine Verletzung des Status Quo – das betrifft auch die völlig nutzlose Leiter. So ist sie zu dem geworden, was sie heute verkörpert: ein fester Bestandteil der Architektur der Grabeskirche, eine lustige Anekdote in historischen Stadtführungen, ein Sinnbild für die Absurdität religiöser Konflikte.
Mathias Weinfurter hat während eines Aufenthalts in Jerusalem 2013 von dieser Leiter erfahren. Davon ausgehend hat er 2018 begonnen, an verschiedensten Orten eigene Status-Quo-Leitern aufzustellen.
Nils Altland: Du hast inzwischen Leitern auf drei Kontinenten aufgestellt, eine schöne Serie ist dabei entstanden. Auf welche Leiter blickst du heute mit der meisten Genugtuung?
Mathias Weinfurter: Schwer zu sagen. Ich sehe das Projekt eigentlich nur als etwas Gesamtes. Es funktioniert auch nur durch die Menge und durch die Idee, dass es noch mehr werden. Eine einzelne Leiter funktioniert gar nicht. Wenn du dir eine einzelne Installation anguckst, musst du wissen, dass sie Teil einer Serie ist, um eine Idee davon zu bekommen.
NA: Du warst mit den Leitern in so verschiedenen Ländern wie Südkorea, Bosnien oder Kolumbien. Welche Rolle spielen die jeweiligen Orte für das Projekt?
MW: Ich würde nirgendwo hinfahren, nur um da eine Leiter zu installieren. Das muss sich schon irgendwie zweckrational verbinden lassen mit einer Reise oder einer Residency, die ich sowieso irgendwo mache. Sonst wäre das A) ökologisch fragwürdig, warum ich jetzt nach Südkorea reise, nur um da eine Leiter aufzustellen. Und B) ist ja der persönliche Aspekt an dem Projekt, dass es langfristig angelegt ist. Rückwirkend dokumentiert es somit, wo ich über die Jahre war. Ich versuche tatsächlich auf jeder Reise eine Leiter zu installieren. Vielleicht ist das Projekt auch so eine Art Reisetagebuch.
NA: Also ist es auch ein ganz persönliches Projekt?
MW: Mit Sicherheit. Eine meiner letzten Leitern habe ich in Siegburg an meiner Schule installiert, wo ich zweieinhalb Jahre war. Da ging es mir um den persönlichen Bezug zu dem Ort, neben der spannenden Architektur. Diese Schule ist für mich wie ein persönlicher Wallfahrtsort. Seitdem ich 2002 von dort weggezogen bin, fahre ich mindestens einmal im Jahr hin. Ich laufe dort gerne eine Runde um die Schule, um nostalgische Gefühle in mir aufkommen zu lassen. Deswegen hatte ich Bock, auch dort eine Leiter zu installieren, um diesen Ort über dieses Projekt zu markieren. Als Station in meinem Leben.
NA: Diese Leitern sind allerdings meistens an schwer zugänglichen Orten. Wie wählst du die aus, wenn du einmal dort bist?
MW: Letzten Endes dürfen die Leitern natürlich nicht an einem Ort stehen, wo sie am nächsten Tag sofort wieder weg sind. Es geht auch darum, dass sie exponiert sind. Das ist ja bei der Jerusalemer Leiter auch so, die ist immer das Vorbild. Die steht an der Grabeskirche auf einem Sims, also weit oben, nicht erreichbar für Passant:innen. Das ist eine Regel, die ich bei den anderen Leitern auch anwende. Aber ich betreibe keinen Fetisch, was die Unmöglichkeit angeht. Ich muss mich nicht irgendwo vom Hochhaus abseilen oder mit einer Drohne irgendwo hinfliegen. Dafür hab ich A) die wirtschaftliche Power nicht. Und B) finde ich das auch einen inspirierenden Moment, wenn ich eine Installation oder eine Intervention sehe und weiß, das hat jetzt nicht großartig viel gekostet. Ich kann in den Baumarkt gehen und mir für zehn Euro ein Seil kaufen und die Leitern dann damit abseilen. Das finde ich dann eher inspirierend.
NA: Dennoch bist du bei manchen dieser Aktionen auch Risiken eingegangen, oder?
MW: Ja, ich bin aber auch vorsichtiger geworden. Vor 10 Jahren hätte ich bestimmt noch anders darüber gedacht. Ich will einfach nicht von einem Haus fallen, nur weil ich da eine Leiter aufstelle. Ich kann auch nicht riskieren, dass ich die Leiter installiere und dann fällt die jemandem auf den Kopf. Wenn jemand durch meine Intervention verletzt wird, bin ich gescheitert.
NA: Du bist nicht der erste Künstler, der sich mit Leitern beschäftigt. Wie hast du dich diesem Gegenstand angenähert? MW: Als ich angefangen habe, mich mit der Leiter auseinanderzusetzen, habe ich recherchiert: Was gibt es eigentlich für Kunst mit Leitern? Ich habe dann wahnsinnig coole Sachen gefunden und angefangen, ein Archiv anzulegen. Letztes Jahr habe ich mir gedacht: Wenn ich dieses Archiv öffentlich zugänglich mache, kann ich das vielleicht sogar erweitern. Gerade bei Instagram funktioniert sowas herausragend, mithilfe der Community. Ich lade also alle paar Tage eine künstlerische Arbeit mit einer Leiter hoch. Und Leute schicken mir regelmäßig andere Arbeiten, die irgendwie mit Leitern zu tun haben oder ihre eigenen Arbeiten. Dementsprechend ist dieses Archiv auch schon richtig groß. Viele Leute, die Installationen mit Leitern machen, verändern etwas an der Leiter selbst, sägen zum Beispiel die Sprossen ab oder tauschen sie gegen Küchenmesser. Aber was ich an meinem Projekt so mag, ist die Einfachheit der Geste: Der Gegenstand an sich bleibt ja dabei unverändert.
NA: Spielt denn die Leiter als Symbol eine Rolle? Theoretisch könnte das ja auch ein Eimer sein oder ein Wischmopp…
MW: Gäbe es an der Grabeskirche den legendären Besen, der an der Wand gelehnt ist und nicht verrückt werden kann, dann wäre es vielleicht jetzt ein Besen. Die Leiter ist aber als Werkzeug auch deswegen so interessant, weil sie im öffentlichen Raum so oft auftaucht. Ständig lehnt irgendwo auf einem Balkon eine Leiter an der Wand. Das ist ein allgegenwärtiges Tool. Das ist ja auch das Schöne an dem Projekt: Ich kann irgendwo hin fahren, nach Südkorea oder nach Kolumbien. Und ich weiß schon vorher, ich finde da eine Leiter. Ich muss keine mitbringen oder in den Baumarkt gehen und eine kaufen. Das hab ich noch nie gemacht. Die Leiter wartet da schon auf mich. Und sie ist dann immer anders: mal aus Holz, mal aus Alu, mal ist es eine Strickleiter.
NA: ...und über das Alltägliche hinaus?
MW: Die Leiter als Motiv ist ja historisch und theologisch aufgeladen. Das wird in der Kunstgeschichte schon früh zitiert und zieht sich durch irgendwelche Fresken bis hin zu Dürer-Holzschnitten. Darauf findest du eigentlich immer eine Leiter – als Himmelsleiter. Als Metapher finde ich aber weniger dieses religiöse Motiv des Aufstiegs in den Himmel interessant, sondern vielmehr das Motiv des Werkzeugs. Ein Werkzeug, das mir eine Zugänglichkeit schafft: Es gibt zwei Ebenen. Ich bin unten, nehme die Leiter und komme auf die andere Ebene. Die Leiter ist wie eine Brücke.
NA: Warum fasziniert dich das Prinzip des Status Quo so sehr?
MW: Dieses Prinzip ist ja vor allem deutlich spürbar in Jerusalem oder im Nahen Osten allgemein. Und es lässt sich auf die minimal kleinsten Gesellschaftszusammenhänge anwenden. Ich denke, dass wir alle in unserem Leben wahnsinnig oft mit diesem Prinzip konfrontiert sind: Ich habe ein Bedürfnis, du hast ein Bedürfnis. Und vielleicht behindern unsere Bedürfnisse sich gegenseitig und wir schließen einen Kompromiss, der ist scheiße für uns beide. Und wir erklären ihn zum Status Quo und behalten ihn bei, obwohl wir beide unzufrieden sind. Denn auf was Besseres können wir uns nicht einigen, also ändern wir jetzt erstmal nichts. Das kann in der Familie sein, in einer Beziehung, in einer Freundschaft. Bis hin zu einem geopolitischen Konflikt kannst du das hoch skalieren.
NA: Ist das die politische Dimension des Projekts?
MW: Es passiert ja immer wieder, dass eine Ungerechtigkeit irgendwo passiert und wir aber keine bessere Lösung finden für das Problem, obwohl es ganz klar nach außen erkennbar ist. Es gibt dann also einen Status Quo. Wir finden eben keine bessere Lösung und behalten diese Ungerechtigkeit bei. Das finde ich als Künstler erstmal ein faszinierendes Phänomen. Ohne dass ich eine Lösung anbieten will. Und die Leiter verbildlicht das. Es ist eben auch so schön, weil es so profan ist: Es ist egal, ob die Leiter da in Jerusalem steht oder nicht. Darüber sind sich vielleicht auch alle Beteiligten mehr oder weniger einig. Sie hat ja keine Funktion. Man ist sich aber vor allem einig darüber, dass man den Status Quo nicht verändern will. Warum auch immer. Also bleibt die Leiter da stehen, egal wie irrational das erscheinen mag.
NA: Hat das Projekt wirklich nichts mit Religion zu tun?
MW: Naja, wenn man sich die Entstehung von religiösen Ritualen anguckt, die funktioniert ja immer über eine Multiplikation. Irgendjemand hat irgendwo etwas merkwürdiges getan, andere haben diese Handlung nach dem selben Stereotyp ausgeführt und dabei wird diese Handlung zum Ritual erklärt, rituell aufgeladen. Und das ist eigentlich die Kernidee. Ich nehme diesen Moment von dieser Leiter und multipliziere ihn, mache ihn zum Ritual, um zu behaupten: Das sind auch Status-Quo-Leitern, die gleichwertig sind mit der ursprünglichen. Deswegen ist die ursprüngliche Leiter auch Teil der Fotodokumentation. Ohne, dass ich sie installiert hätte. Sie hat nichts Erhabenes, nichts Sakrales, Göttlicheres als die anderen. Ganz profan.
NA: Ist nicht der entscheidende Unterschied zwischen deinen Leitern und der Leiter in Jerusalem, dass deine eben nicht für immer da sind?
MW: Das Spannende ist doch: Die Leiter in Jerusalem ist vielleicht auch nicht für immer da. Ich bin mir sogar sicher, dass die nicht für immer da ist. Aber eben sehr lange. Und da kommen wir zu dem spannenden Thema von Monumenten. Letztlich ist die Leiter in Jerusalem ja auch ein Monument. Genauso wie meine Leitern auch Monumente sind, die immer auch an eine Zeit und an eine Physis geknüpft sind. Ich meine, wenn mal ein Erdbeben abgeht oder eine Bombe explodiert oder whatever, dann ist die Leiter halt weg. Dann kann man sich überlegen, ob man ein Replikat da hinstellt. Oder man kann sagen: Okay, dann war's das jetzt halt. Dann stand jetzt seit 400 Jahren die Leiter da und jetzt nicht mehr.
Mit meinen Leitern ist es ein bisschen wie in dieser klassischen Beuys-Geschichte mit dem Fett, das von der Putzkraft weggewischt wird. Es ist ja total schön, wenn ich weiß, dass nächste Woche der Hausmeister an die Schule kommt und sieht, dass da eine Leiter steht und sich denkt: Ich hab keine Ahnung, was das soll, aber natürlich muss die weg. Der wird sich vermutlich überhaupt nicht fragen, ob die Leiter eine Bedeutung haben könnte.
NA: Weißt du von irgendwelchen Leitern, die aktuell immer noch da stehen, wo du sie hingestellt hast?
MW: In Bogotá könnte ich mal nachfragen, ob sie da noch steht. Zumindest stand sie Monate später noch, als das Google Street View Auto vorbeigefahren ist. So ist sie zumindest über Google festgehalten.
NA: Das heißt, du wärst damit einverstanden, wenn Leute das adaptieren würden. So wie Leute irgendwann angefangen haben, ihre Turnschuhe zusammen zu schnüren und über irgendwelche Oberleitungen zu schmeißen?
MW: Solche Phänomene entstehen ja gesellschaftlich, vielleicht auch aus einem Begehren nach Ritual und Spiel. Ich weiß gar nicht, ob ich als Künstler in der Lage bin, für so ein gesellschaftliches Phänomen eine Initialzündung zu geben. Ich habe diesen Moment ja total künstlich erschaffen und gehe damit gar nicht auf ein Bedürfnis ein. Das ist vielleicht der Unterschied. Ich kann dir jetzt ad hoc nicht sagen, was das Bedürfnis dahinter ist, Turnschuhe über die Oberleitung zu werfen. Aber es muss ja eins geben, sonst würde sich dieses Ritual ja nicht ständig stereotyp wiederholen, oder?
NA: Geht es dir denn darum, auch Architektur in Frage zu stellen?
MW: In Frage stellen ist gut! Architektur spielt ja eine große Rolle in dem Projekt. Ich nutze die Architektur sozusagen aus, ich gehe parasitär an sie heran. Ich versuche immer, die Architektur zum Sockel zu erklären, das ist eigentlich der Punkt. Auch der Sims in Jerusalem ist ein Sockel. Es gibt zwar Berichte darüber, dass die Mönche darauf schon Pflanzen gezüchtet haben. Aber so wie ich es gesehen habe, wurde dieser Sims eigentlich nicht genutzt – außer eben als Sockel für die Leiter. Ich versuche immer, vergleichbare Sockel an der Architektur zu finden. Zum Beispiel an Brücken, weil die Brückenpfeiler ja sowieso schon Sockel für die Brücke selber sind. Meistens stehen die auch etwas über. Aber die zeitgenössische, super zweckrationale Rauputz-Architektur bietet wenig Spielraum. Da gibt's selten irgendwo einen unbegehbaren Vorsprung, den du ausnutzen kannst als Sockel. Deswegen eignen sich oft eher ältere Gebäude.
NA: Was hat dich denn speziell an dem Bunker in Berlin-Schöneberg gereizt?
MW: Es gab noch andere Orte in Berlin, die in Frage gekommen wären. Aber an diesem Ort gab es so eine Gemengelage an Aspekten, die fand ich wahnsinnig interessant: Klar, die historische Architektur, der Bunker, das Palasseum, das sich darüber stülpt. Architektonisch super aufregend. Aber auch subkulturell ist das ein total aufgeladener Ort mit einer historischen Bedeutung, vor allem für mich persönlich. Ich kenne das noch aus der True 2 the Game DVD, wo der Sprüher Poet da entlang spaziert und erklärt, was für ein geiler Spot das einmal war. Früher war das seine Hall of Fame, jetzt sind die Wände alle weiß. Lange bevor ich das erste Mal in Berlin war, kannte ich den Ort schon. Diese Gegend hat bis zu mir nach Frankfurt eine Anziehungskraft ausgewirkt. Und als ich dann vor Jahren selbst dort war, hat ein Freund mich hingeführt, wir sind zu Downstairs gegangen, der Laden war dort nebenan. Das war total aufregend für mich.
NA: Inwiefern hat dich eigentlich dein Hintergrund als Sprüher dazu veranlasst, dieses Projekt zu starten? Siehst du da irgendwelche Parallelen?
MW: Mit Sicherheit gibt es die. Das wäre jetzt albern, das zu leugnen. Als jemand, der in der Graffiti-Subkultur sozialisiert wurde, der öffentliche Interventionen durchführt. Natürlich steht das in einem Zusammenhang, ganz klar. Was ich aber nicht machen würde, wäre irgendwo ein Bild hin zu sprühen und zu behaupten, das wäre jetzt meine Kunst. Das hat seinen Platz für mich ganz gut in der Subkultur. Da ist das schon ganz gut aufgehoben.
Es gibt aber Leute – da denken wir wahrscheinlich direkt an die gleichen, die ihre Graffiti-Herangehensweise in öffentlichen Interventionen noch viel mehr auf den Punkt bringen als ich. Ich sehe das eher poetisch. Also das muss jetzt gar nicht der riskanteste Ort sein, sondern da ist mir die Poesie der Leiter selber viel wichtiger, die Poesie der Behauptung: Das ist jetzt die Status-Quo Leiter. Die muss überhaupt nicht auf dem Brandenburger Tor stehen, sondern eben auf einem Bunker in Schöneberg, damit das die Status-Quo-Leiter Berlin ist. Der Graffiti Sprüher sagt: Du musst aufs Brandenburger Tor klettern und da eine Leiter aufstellen. Aber der Poet in mir sagt: Nee, du musst den Ort relevant machen über die Aktion, nicht andersherum.
NA: Du sprichst von der “Poesie der Behauptung”. Geht es dir eher darum, in dieser Behauptung selbst etwas Schönes, Faszinierendes zu sehen als zu kritisieren, dass "Status Quo" immer auch bedeutet, dass Menschen Herrschaftsstrukturen einfach behaupten?
MW: Ich will an meine Kunst ja nicht didaktisch herangehen, nicht zwingend Kritik und auch keine Lösungsansätze formulieren. Sondern ich habe eher das Bedürfnis darüber zu reden, eine Basis zum Gespräch aufzustellen. Ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn jemand in einer philosophischen oder soziologischen Auseinandersetzung meine Arbeit als Beispiel zitieren würde und sagt: ‘Guck mal! Apropos Status Quo: der Mathias Weinfurter hat das Problem aufgegriffen und hat einen Beitrag dazu geleistet. Wie er damit umgegangen ist, ist interessant.’ Aber eine Kritik oder eine Lösung steckt da erstmal nicht drin.
NA: Was ist dann das Anliegen hinter dem Projekt?
MW: Was mir persönlich besonders wichtig ist, ist Narrative aus der Realität aufzugreifen und diese weiterzuführen oder anders und neu zu erzählen. Und nicht alles als gesetzt und abgeschlossen zu bewerten. Wie an diesem Beispiel: Irgendjemand stellt vor 400 Jahren eine Leiter auf einen Sims. Es ist nicht so, als müsste man das als gegeben akzeptieren, sondern man kann auch 400 Jahre später sagen: Ich setze da an, ich mache da weiter. Ich verändere die Erzählung. Und je nachdem, wie erfolgreich ich damit bin, könnte es vielleicht irgendwann den Moment geben, an dem die Erzählung mit meiner Arbeit weitergeführt wird und dann ganz woanders aufhört. Das fände ich interessant. Ich glaube, das wäre dann so ein Moment, wo ich sagen würde: Jetzt hast du etwas geschaffen.
1 Auf dem Instagram-Account @ladder_by
2 “Downstairs” in der Yorckstraße in Berlin-Schöneberg war ein Geschäft für Sprühdosen und in den Neunziger- und Nullerjahren ein wichtiger Treffpunkt der West-Berliner Graffitiszene.