Den Titel seiner Werkserie P.P. entlehnt der Künstler Mathias Weinfurter einem Alltagssymbol des italienischen Sprachraums. Die Abkürzung P.P. (proprietà privata) lässt sich auf Bordsteinen, auf Denkmälern, an Mauern, Toren und Fassaden finden. Meint P.P. zwar nicht die Initialen einer konkreten Person, sind damit doch nachdrücklich die Besitzansprüche Einzelner benannt. Denn P.P. weist ausgeschrieben unmissverständlich auf Privateigentum hin. Ähnlich wie das Namensschild an Bucheinbänden oder Wohnungstüren, entzieht die stempelhafte Kennzeichnung von Raum ihm damit nicht nur seiner gemeinschaftlichen, also öffentlichen Nutzung. Denn mehr noch, kommt das symbolische Anbringen einer Plakette, das Aufstellen eines Schildes oder das Abriegeln von Flächen mit Gittern und Ketten der Warnung gleich, das unbefugte Benutzen der als privat markierten Orte – obgleich der Nutzart – kategorisch zu kriminalisieren. Markierungen im Räumlichen werden demnach nicht allein schriftlich vermittelt: oft sind es nur subtile Gesten, die erst bei genauerer Analyse auf den repressiven Charakter ihrer Umgebung schließen lassen. Auch sei bemerkt, dass die Gewalttätigkeit solcher Orte oft nicht durch ihre bloße Formgebung zu bestimmen ist. Zu suchen wäre sie eher in der Diskrepanz zwischen Gestaltung und Bedeutung von Barrieren bzw. Grenzen, die oft scheinheilig neutral daherkommen, fast so, als müssten sie ihre Funktion geheim halten.
So subtil nun die Ketten und Zäune mit ihren filigranen Metallverästelungen und Ösen sein mögen, sie materialisieren sich als physische Eingriffe in den Raum. Schwieriger noch wird die Bewertung räumlicher Markierungen, wenn sie ganz und gar entmaterialisiert sind, gedankliche Konstrukte, die dennoch an bestehender Ordnung festhalten und teilhaben. Sie scheinen so, als sei das Tatsächliche immer nur das Bekannte, kaum aber das Mögliche, immer nur starr, kaum fluide. Raum, in seiner allgemeinen Kategorie als die uns umgebende Realität, kommt somit eine bedeutende Rolle in der Schaffung und Rücknahme von Freiheiten zu. Weinfurters ästhetische Auseinandersetzung in der Werkserie P.P., inspiziert das Spannungsgefüge zwischen Raum, seiner Beschränkung und seiner Aneignung. Angesetzt an der Erkenntnis, dass Raum als Form des privaten Eigentums zwar existiert, wird dieser vom Künstler als fragil bemessene Status, der Besitz, einer konstant kritischen Betrachtung unterzogen. Spielerisch stellt Weinfurter wiederholt die Frage nach der Validität und der Legitimität von Grenzen des Öffentlichen und öffentlich Zugänglichen und verweist dabei durchweg auf den variablen, gar ephemeren Aspekt von Räumlichkeit.
Im Vordergrund steht jedoch nicht das Entwenden von privatem Eigentum, etwa das Entfernen der Ketten, sondern das “als ob”. Weinfurter rückt die Absperrungen und Barrieren in neue, ihrer Nutzung nach unzulängliche Kontexte. Damit entzieht er den Ketten nicht nur ihre ursprüngliche Funktion, sondern treibt ihre grundlegende Bedeutung ad absurdum. Die als Reihe von Installationen angelegte Arbeit P.P., entwickelt der Künstler seit 2017 und greift sie seither immer wieder auf. Weinfurter führt die Prozessualität seiner Werke dabei sowohl auf inhaltlicher als auch formaler Ebene weiter. Lässt etwa seine Installation in den Opelvillen Rüsselsheim aus dem Jahr 2018 (Abb. 1-2) noch den engen Bezug zum öffentlichen Raum, der Auseinandersetzung mit der Kette als Absperrung herstellen, abstrahieren seine Konstruktionen von 2019, die in white cubes gezeigt wurden, nicht wegen der anderen Ausstellungssituation, sondern ihrer Form und Materialität nach, die Funktion der Kette. In gewisser Weise könnte man sagen, dass seine Arbeiten im Freien und diejenigen in geschlossenen Räumen aus einer Grundüberlegung zweierlei Tendenzen entwickeln. Die Ketten, die der Künstler im Außenraum installiert, suchen eine Verbindung zur Natur herzustellen. Indem Weinfurter sie behutsam in einen Baum wickelt, offenbart er den Fetischcharakter, der an die Kette herangetragen wird. Im öffentlichen Raum scheint sie sich als vermeintlich natürliches Element einer urbanen Infrastruktur gewaltlos in deren Umgebung einzufügen. Nicht jedoch wird hinterfragt, wieso die Kette – als Barriere – ihren unumfochtenen Platz innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges innehat, noch wird ihre Produktion reflektiert, die eine industriell künstliche – eine, der Idee nach, menschgemachte - ist. Mag die Kette noch so rational scheinen, gelangt sie doch nur über ihre ideologische Setzung zu einer Bedeutung. Die Zuspitzung, die der Künstler hier betreibt, ist durchaus humoristisch. Meist sind die Ketten dem öffentlich zugänglichen Raum entwendet. Es sind die Absperrungen zu Einfahrten, Höfen und Wegen, die die Durchlässigkeit und damit auch die Bewegungsfreiheit im Raum blockieren. Weinfurter befreit so auch symbolisch den Raum von der Kette, wertet sie um und gestaltet neue Vorschläge zu ihrer Nutzung. Mathias Weinfurter sagt über seine Praxis: „Irgendjemand kann irgendetwas in den öffentlichen Raum hängen, doch es liegt in der Freiheit der Kunstschaffenden dieses Etwas wieder wegzunehmen und es umzugestalten.“ Es geht ihm dennoch weniger um das tatsächliche Enteignen als um die Frage nach Eigentumsansprüchen und den Möglichkeiten räumlicher Umverteilung. Damit agiert der Künstler in einem Diskursfeld, das aufs Engste mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Hegemonialverhältnissen korrespondiert.
Die spielerische Strategie öffentliche Objekte neu- oder umzusetzen, fragt zwar naiv, vor allem aber hoffnungsvoll nach der realpolitischen Funktion von Ausgrenzung. Tatsächlich möchte man fragen, welchen Schaden es Raum zutrüge, würde er nicht exklusiv genutzt werden – argumentiert würde mit Abnutzung, Vandalismus und anderen Phantasmen, die all denen den Zugang verwehren, die vermeintlich unrechtens am Raum teilhaben möchten. Von Enteignungsbestreben, über Migrationspolitiken, bis zu Verstößen gegen Grundrechte: Raum ist in der heutigen politischen Landschaft eine Kategorie, um die es zu kämpfen gilt. Im Begriff der hostile architecture werden von Seiten der kritischen Theoriebildung etwa in der Architektur, Geographie und Stadtplanung, etwa seit einem Jahrzehnt nicht nur dezidiert infrastrukturelle Exklusion, sondern auch defensive Gestaltungselemente der als öffentlich deklarierten (und dennoch verschlossenen) Räume subsumiert. Leerräume und Kluften in Unterführungen, werden mit Zacken versehen, die es verunmöglichen, darin Unterschlupf zu finden. Kalte, metallene Sitzbänke in städtischen Parks laden keineswegs zum Ausruhen ein, sind sie doch strikt in einzelne Sitze unterteilt und verhindern dadurch das Liegen auf ihnen. Städtischer Raum ist kaum durch die Gegenwart des Gebots charakterisiert, im Gegenteil: An fast jeder Ecke finden sich die verschiedensten Aufforderungen, welches Handeln zu unterlassen sei, was nicht erlaubt ist, und letztlich, welche Konsequenzen das Nichtbefolgen dieser Regeln mit sich bringt. Es scheint gar, als werde jedes noch so kleine Stückchen Raum, das ein Potenzial hat, Freiraum zu bilden, mutwillig seiner hypothetischen Funktion entzogen. Solche repressiven Architekturen erstrecken sich über einen Großteil des öffentlichen Raums. Selbst die einst von Foucault geprägte Analyse einer zentralistisch überwachenden Autorität, die in der Bauform des Panoptikums ihre architektonische Vollendung fand, beschränkt sich schon längst nicht mehr nur auf Gefängnisse und die Verwaltungskomplexe des Staatsapparats, sondern setzt sich perfide im Wohnungsbau fort. Großflächige Siedlungen, deren Höfe zentriert im Inneren der Komplexe angelegt sind, gleichen nicht willkürlich Vollzugsanstalten. Architekturen, besonders öffentliche, sind immer auch Ausdruck der politischen Agenda der Machthabenden in ihrer Zeit. Auch was unter dem Begriff der (urbanen) Sicherheit und über Staatsgrenzen hinweg diskutiert wird, ist dabei keineswegs konfliktfrei. Im Städtebau zeigt sich beispielhaft eine Dialektik des Ausschlusses, die Schutz propagiert, sich dabei jedoch auf die Angst vor Schutzlosigkeit und auf das spekulative Misstrauen in einer prekären Krisengesellschaft stützt. Sicherheit, so sind sich viele Regierungstragende einig, sei einzig durch totale Überwachung zu garantieren. Die Freiheitsbeschränkungen, die mit surveillance societies einhergehen, sollen jedoch nicht als Bürde, sondern Kompromiss zu verstehen sein – zugunsten einer individuellen Sicherheit der Privilegierten, nicht aber zum Schutz der Gesamtgesellschaft. Die Frage nach der Nutzung von Raum fügt sich so in die kapitalistische Verwertungslogik ein, die für die gegenwärtigen Gesellschaften charakteristisch ist.
So, even if Weinfurter's net-like chain objects at first glance appear to be formalist aestheticizations of the snatched goods, that boldly undermine function in their production aesthetics, they also convey through form the tragic essence of repressive infrastructures. Weinfurter's expansive constructions are often dominant in their effect, even daunting. Even though the artist invites the audience to cross the aesthetic boundary. Thus, the haptic aspect, such as touching, is laid out as a participatory moment in the works. The vanishing distance between the work and the viewers thus idealistically thematizes and mirrors what is taken away through privatization and is finally reclaimed through the artistic staging. In Weinfurter's works, the motif of the chain crystallizes into an ambivalence that limits and at the same time enables passage. While the art object is suitable for leaning against during taking a selfie in the gallery space, it is not at all comfortable. For the chain remains the symbolic blockage not intended for use.
Mögen auch Weinfurters netzartige Kettenobjekte auf den ersten Blick als formalistische Ästhetisierungen des abgezwackten Fremdguts erscheinen, die in ihrer Produktionsästhetik plakativ dessen Funktion unterbinden, so vermitteln sie durch ihre Form hindurch auch die tragische Essenz repressiver Infrastrukturen. Oft sind die raumgreifenden Konstruktionen von Weinfurter in ihrer Wirkung dominant, gar abschreckend. Und das, obwohl der Künstler zur Überschreitung der ästhetischen Grenze einlädt. So ist auch der haptische Aspekt, die Berührung, als ein partizipatorisches Moment in den Arbeiten angelegt. Die schwindende Distanz zwischen Werk und Betrachtenden thematisiert und spiegelt damit idealistisch das, was durch Privatisierung weggenommen und schließlich durch künstlerische Inszenierung zurückgefordert wird. In Weinfurters Arbeiten kristallisiert das Motiv der Kette zu einem ambivalenten, das abgrenzt und zugleich des Durchgangs befähigt. Eignet sich das Objekt noch zum Anlehnen während der Aufnahme eines selfies im Galerieraum, gemütlich ist es dabei nicht. Denn die Kette bleibt die symbolische Blockade, die nicht zum Gebrauch gedacht ist. Und doch kommt dem kalten, schweren Metall, scharfkantig durch den Bolzenschneider und mit einer Patina der Verwitterung bedeckt, so fein zusammengekettet, auch eine ganz andere Wirkung zu. Besonders, wenn der Künstler seine Ketten in Bewegung setzt. Weinfurters Werke schweben über dem Grund, setzen langsam ab und breiten sich auf dem Boden aus. Ein Gewicht, unter dem man nicht liegen möchte und doch scheinen sie so anschmiegsam. Weinfurter besetzt die Objekte mit neuer Bedeutung: ihrer Funktion entleert, werden sie zum objet trouvé, das um den Willen seiner eigenen Sphäre, als Kunst, ein Dasein abseits des Gesellschaftlichen hat und doch auf die Bedingungen, die Geschichte seiner Produktion verweist. Denn die Materialaneignung des Kunstwerks folgt anderen Prinzipien als jene der Gesellschaft. Mögen Weinfurters Ketten auf den ersten Blick hostile und archaisch wirken, so bekommen sie doch durch den Kontext ihres Ausgestelltseins und den Standpunktwechsel einen gegenteiligen Charakter. Sie werden zurückgefordert und umgedeutet. Als Zuspitzung gesellschaftlicher Phänomene, bietet Weinfurters Kunst sich nicht als Lösung, sondern als Beitrag zur Diskussion an. In diesem Sinne könnte man seine minimalistischen skulpturalen Arbeiten nicht nur als ein Angebot lesen, sondern an ihnen das bekannteste Zitat linker Theoriegeschichte ableiten: „Die Proletarier haben nichts [...] zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“
1 On the topic of hostile architecture see also: Hu, Winnie: ‘Hostile Architecture’: How Public Spaces Keep the Public Out, in: New York Times, URL: www.nytimes.com/2019/11/08/nyregion/hostile-architecture-nyc.html; McFadden, Christopher: 5 Examples of 'Anti-Homeless' Hostile Architecture That You Probably Never Noticed Before, in: Interesting Engineering Online, URL: https://interestingengineering.com/15-examples-of-anti-homeless-hostile-architecture-that-you-probably-never-noticed-before [both last visited: Sept. 8, 2021].
2 Cf. Wölfl, Lisa: Wieso Parkbänke so verdammt ungemütlich sind, in: Moment. Podcast (website), URL: www.moment.at/story/wieso-parkbaenke-so-verdammt-ungemuetlich-sind [last visited: Sept. 10, 2021].
3 Referring to Michel Foucault's Discipline and Punish: The Birth of the Prison (1975).
4 See for example: Floeting, Holger: „Es muss etwas passieren“ – (Un-)Sicherheit und Stadtentwicklung, in: Forum Kriminalprävention (4/2013), pp. 8-14.
5 See also website of Bundeszentrale für politische Bildung: Denninger, Erhard: Freiheit gegen Sicherheit?, URL: www.bpb.de/dialog/netzdebatte/ 243992/freiheit-gegen-sicherheit; Endreß, Christian und Nils Petersen: Die Dimensionen des Sicherheitsbegriffs, , URL: www.bpb.de/politik/innenpolitik/innere-sicherheit/76634/dimensionen-des-sicherheitsbegriffs [both last visited: Sept. 19, 2021].
6 The term surveillance society refers to forms of society that are particularly characterized by surveillance. This can be, for example, by wide spread video recording, but also by other mechanisms of surveillance, such as the social control of citizens among themselves and by the state, the storage of personal data or the use of facial recognition software in public places. See exemplary the recently published anthology: Zappe, Florian; Gross, Andrew S. (Eds.): Surveillance, Society, Culture, Berlin, 2020.
7 Engels, Friedrich und Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei (first published in German in 1872, here used 56th edition from 1989, Dietz Verlag Berlin), p. 83.